Reaktion auf die Stellungnahme der Frontal 21 - Redaktion zu meinem Artikel über den Beitrag „Schulsterben- in Deutschland – Bildungsrepublik ohne Bildung“ by Achim Tack

Die Frontal 21-Redaktion hat auf meinen Artikel  reagiert und eine Stellungnahme hierzu veröffentlicht. Ich begrüße es sehr, dass sich die Redaktion die Mühe gemacht hat, auf einige Teile meiner Kritik einzugehen. 

Mir, primär einem Ingenieur der Stadtplanung und lediglich privat einem Blogger,  sind die Quellen der ZDF-Recherche nicht zugänglich, daher kann ich auf einige der in der Stellungnahme aufgeführten Details nicht eingehen. Natürlich würde mich über die Veröffentlichung der entsprechenden Dokumente im Sinne einer transparenten und nachvollziehbaren Berichterstattung freuen. Nun lediglich auf die Untersuchungsergebnisse der Elterninitiative (an deren Korrektheit ich zu keinem Zeitpunkt Kritik geübt habe, da die Existenz dieses Gegengutachtens im Beitrag überhaupt nicht zur Sprache kam) zu verweisen - und die eigene Untersuchung vorzuenthalten, halte ich für unzureichend. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass das ZDF das PDF der Bürgerinitiative ohne weitere Erläuterung und Einordnung auf dem eigenen Server hostet.

Die Dramaturgie und inhaltliche Kritik des Beitrages wird durch die Stellungnahme nachvollziehbarer bzw. überhaupt erst ersichtlich - viele der in der Stellungnahme genannten Details wären auch im Beitrag selbst wünschenswert gewesen. Ich werde in den kommenden Tagen die vom ZDF kritisierten Passagen meines Artikels kritisch überprüfen und ggf. nach und nach anpassen. Aus Gründen der Transparenz wird ein PDF des ursprünglichen Artikels weiterhin auf meiner Seite verfügbar bleiben.

Die Stellungnahme lässt jedoch das zentrale Element meiner Kritik an dem Beitrag leider weitestgehend offen: Die grundsätzliche Auswahl und Einleitung der Akteure, die in dem Film zu Wort kommen. Deren teilweise Nähe zur Bürgerinitiative wurde im Beitrag nicht bzw. nicht ausreichend dargestellt. 

Im Prinzip ist das Vorgehen, ein Gutachten zu überpüfen, doch sehr einfach: Man lässt das Gutachten selbst von einem weiteren Gutachterbüro überprüfen, welches aus meiner Sicht (und ich bin hier sehr offen für andere Meinungen) mindestens folgende Kriterien erfüllen sollte:

A ) Neutralität
Keine Interessensverbindungen sowohl zur beauftragenden Stadt oder zu den Gegnern des kritisierten Gutachtens

B) Kompetenz
Gleiches oder sehr verwandtes Fachgebiet wie der ursprüngliche Gutachter und reichlich Erfahrung in der Anfertigung dieser Art von Gutachten

Zu A):
Herr Prof. Traub erfüllt als aktives Mitglied der Bürgerinitiative und Ehemann einer durch die geplanten Schulschließungen direkt betroffenen Lehrerin dieses Kriterium offenkundig nicht. Die Tatsache, dass Herr Prof. Hickel im Nachbarort wohnt, mag die Redaktion von Frontal 21 und auch er selbst unbedeutend finden. Ich tue dies nicht und habe selbst schon bei einem früheren Arbeitgeber die Mitarbeit an Projekten in meiner Heimatstadt abgelehnt, um mich als Ingenieur der Stadtplanung bzw. das Büro hinterher nicht genau diesen Vorwürfen aussetzen zu müssen.

Zu B)
Beide zu dem Gutachten befragte Wissenschaftler sind zweifelsohne in der Lage, potenziell im Gutachten von Biregio befindliche grobe Methodik- oder Rechenfehler zu entdecken. Diese Kompetenzen spreche ich beiden Wissenschaftlern nicht ab.
Bislang im Bereich der Anfertigung von Gutachten der Schulentwicklungsplanung tätig gewesen sind sie jedoch nicht (soweit mir bekannt bzw. aus der Stellungnahme von Frontal 21 hervorgehend).

Als Hinweis, dass nicht nur ich die Auswahl der Akteure für unglücklich halte, kann aus meiner Sicht auch auf die öffentliche Distanzierung des Bildungsexperten Klaus Klemm von dem Beitrag gelten, sowie die Tatsache, dass er sich beim ZDF über den Bericht beschwert und das klärende Gespräch mit der Firma Biregio gesucht hat.  Hierzu, sowie zu den von der Schwäbischen Zeitung genannten Vorwürfe zum Beitrag wäre eine weitere Stellungnahme seitens der Frontal 21 Redaktion wünschenswert.

An mehreren Stellen der Stellungnahme werden mir darüber hinaus Aussagen zugesprochen, die ich in meinem Artikel so niemals getätigt habe:

Zum Fallbeispiel Hagen: Frontal 21 unterstellt mir, die Tatsache, dass Herr Gronwald in der Nähe der betroffenen Hagener Schule wohnt, als Vorwurf dargestellt zu haben. Dies ist schlicht falsch - ich habe diese Tatsache explizit als Vorteil für seine Sachkunde dargestellt. Und es ist absurd zu behaupten, dass durch die Verbindung des vier Jahre alten Biregio-Gutachtens zur aktuellen Kritik an der Schulschließung im Beitrag nicht implizit die Qualität des ursprünglichen Gutachtens in Frage gestellt wurde. 

Zur Grundschule Damshagen: Ich habe in meinem Artikel entgegen der Behauptung von Frontal 21 nicht geschrieben, dass die Schule aufgrund ihres baulichen Zustands geschlossen wurde. Ich führte an, dass der Umstand, dass die Schule im Jahr ihrer Schließung wegen Schimmelbefall gesperrt wurde eine Information ist, die man den Zuschauern für eine objektive Meinungsbildung nicht hätte vorenthalten dürfen.

Zum Zusammenhang von Schulschließungen und ihrer Auswirkungen auf die Einwohnerentwicklung: Frontal 21 unterstellt mir, diesen Zusammenhang zu bestreiten. Ich habe in meinem Artikel ausgeführt, dass mir keine empirischen Studien zu diesem Thema bekannt sind, ich diesen Zusammenhang allerdings für sehr wahrscheinlich halte. Frontal 21 behauptet, dass es hierzu eine umfangreiche Diskussion in der Fachliteratur gibt, nennt aber keine einzige empirische Studie als Quelle. Die Redaktion benennt lediglich ein anekdotisches Beispiel aus dem Fernsehbeitrag.

 

Zuletzt noch eine weitere Anmerkung zur Stellungnahme an sich:  

Sie wird eingeleitet mit der empörten Feststellung der Redaktion, grundsätzlich keine Gefälligkeitsbeiträge zu produzieren. Diese von mir ganz bewusst als ironisch und in boulevardesker Manier als Stilmittel gestellte Suggestivfrage spiegelt die Schwere der Anschuldigung gegen das Gutachterbüro Biregio wider. Auch ich gehe davon aus, dass man beim ZDF keine Beiträge "kaufen" kann.

Einen Gutachter mit Gefälligkeitsgutachten in Verbindung zu bringen ist eine extreme, weil potenziell ruinierende Anschuldigung, die mit größter Sorgfalt im Beitrag selbst und nicht erst als Reaktion auf Kritik sehr detailliert zu belegen ist.

Das hat der Frontal 21-Beitrag meiner Ansicht nach unterlassen und wie ich finde die "Richtlinien für die Sendungen und Telemedienangebote des ZDF" (insbesondere Abschnitt III Absatz 4 und 6) missachtet.

Kritik an der Recherche zum Beitrag Schulschließungen bei Frontal 21 by Achim Tack

In der Frontal 21 Sendung vom 9. Juni 2015 nähern sich die Redakteure Christian Esser und Daniela Schmidt-Langels in ihrem Beitrag „Schulsterben- in Deutschland – Bildungsrepublik ohne Bildung“ dem wichtigen Thema Schulschließungen auf dem Land und werfen dem Gutachterbüro Biregio aus Bonn vor, der Politik Gefälligkeitsgutachten zu Dumpingpreisen zu erstellen. Die beiden Autoren verschweigen dabei  jedoch für die Geschichte elementare Zusammenhänge und müssen sich Fragen zur journalistischen Qualität des Beitrags gefallen lassen. Inwiefern die "Richtlinien für die Sendungen und Telemedienangebote des ZDF" (insbesondere Abschnitt III Absatz 4 und 6) missachtet wurden kann letztlich wohl nur der Presserat klären.

Im Folgenden zitiere ich jeweils das vom ZDF herausgegebene Manuskript der Sendung und kommentiere die aus meiner Sicht problematischen Stellen. Man könnte den Beitrag auch an verschiedenen Stellen wegen seiner reißerischen Grafiken und falschen Karten (Flandern und Wallonien sind keine getrennten Staaten!) kritisieren aber hier soll es nur um die „harten Fakten“ gehen.

DISCLAIMER:

Ich arbeite für ein Hamburger Ingenieurbüro, welches z.T. ähnliche Themenfelder wie das im Beitrag genannte Büro Biregio bearbeitet. Bisher bin ich für keine der im Beitrag genannten Personen oder Kommunen tätig gewesen und wohne nicht in den gezeigten Regionen. Die im Beitrag bemängelten Gutachten sind mir nicht bekannt und meine Kritik bezieht sich auf die Art der Berichterstattung. Dieser Beitrag gibt meine persönliche Meinung wieder. 
Falls man meinem Text anmerkt, dass ich meine Branche angegriffen sehe: Das ist beabsichtigt...


00:13 - die Mütter

O-Ton Doris Borgmeier, Mutter: Uns regt auf, dass ohne Schülernot kleine Schulen geschlossen werden, die ein hervorragendes pädagogisches Konzept haben, wo es hoch motivierte Lehrkräfte gibt, die die Schüler optimal fördern.

O-Ton Uta Murken-Gieschen, Mutter: Wenn die Schulen nicht mehr da sind, ist die Befürchtung natürlich ganz, ganz groß, dass die kleinen Dörfer so ein bisschen aussterben, vergreisen und keiner mehr kommt.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Beide Mütter sind in der Bürgerinitiative "Unser Lilienthal unsere Grundschule“ aktiv, die gegen die Schließung der Grundschulen protestiert. Es ist völlig ok, mit diesen O-Tönen in den Bericht einzusteigen, aber es wäre für einen ausgewogenen Beitrag durchaus interessant, dies den Zuschauern mitzuteilen.

Frau Borgmeier ist die Ehefrau von Carsten Borgmeier welcher wiederum Inhaber der Borgmeier Medien Gruppe ist. Diese mit einem großen Portfolio im Public Relations Bereich tätig. So z.B. auch im Bereich der Krisenkommunikation. Frau Borgmeier hat zumindest zeitweise den Standort der Agentur in Lilienthal geleitet und ist vom Fach. Diesen Umstand musste Frontal 21 meiner Ansicht nach nicht erwähnen - es erklärt lediglich die professionelle Pressearbeit der Bürgerinitiative.

Quelle: http://www.unserlilienthal-unseregrundschulen.de/

Quelle: http://www.borgmeier.de/public-relations/


01:00 - die Oppositionspolitikerin

O-Ton Tanja Ruczynski, CDU, Gemeinderat Lilienthal: Der Gemeinderat hat sich für das Unternehmen Biregio entschieden. Ein Unternehmen, das aus Bonn kommt und wie eine Heuschrecke durch ganz Deutschland gerufen wird, wenn es um entsprechende Schulgutachten und die Entwicklung von Schulentwicklungsplänen geht.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Fr. Ruczynski wollte 2011 Bürgermeisterin werden, hatte jedoch aus der eigenen Partei zu wenig Rückendeckung und trat deshalb nicht gegen den nun amtierenden Bürgermeister an, der später im Beitrag als „Schulschließer“ dargestellt wird. Nicht unbedingt die beste Quelle, um sich eine ausgewogene Meinung zu einer Ratsentscheidung zu holen. Aber hey – sie hat „Heuschrecke“ gesagt!

Quelle: http://www.weser-kurier.de/region/osterholzer-kreisblatt_artikel,-Tanja-Ruczynski-tritt-nicht-gegen-Hollatz-an-_arid,236483.html


01:21 - die Beratungsfirma

Wolf Krämer-Mandeau ist Chef der Beratungsfirma Biregio. Er hat mittlerweile deutschlandweit für 500 Städte und Gemeinden Gutachten erstellt. Die folgen gerne seinen Empfehlungen. Gegen Biregio kommt es deshalb immer wieder zu Protesten und kritischen Stimmen in der Lokalpresse:

- Aufregung und Unsicherheit
- Nur neun von 20 Schulen eine Überlebenschance
- Kritik an Empfehlung von Biregio
- Schulentwicklungsplan an der Realität vorbei
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Zur Einordnung: Die Firma ist in ganz Deutschland unterwegs und das ist auch kein Wunder: Schulentwicklungspläne sind komplex in Ihrer Herstellung und werden gleichzeitig nur alle paar Jahre aktualisiert. Viele kleinere Kommunen haben durch jahrelanges Sparen kein Personal mehr, was ohne externe Expertise einen solchen Plan erstellen kann. Ein Büro welches sich auf dieses Thema spezialisiert muss deutschlandweit tätig sein um überhaupt genug Auftragsvolumen generieren zu können.

Dann gibt also kritische Stimmen in der Lokalpresse. Das überrascht nicht, denn der Job der Firma ist es, sich mit einem hochgradig emotionalen Thema zu befassen. Gutachten werden aus exakt diesem Grund erstellt: Es sollen Analysen abseits vom Bauchgefühl und der politischen Agenda einzelner Akteure angefertigt werden. Die Quellen der Zeitungsüberschriften nennt Frontal 21 nicht.


02:00 - der erste Experte

Für den Bericht notwendig ist nun die Einschätzung mehrerer Experten, die das Thema fundiert und neutral beleuchten. Quasi ein Gutachten über den Gutachter. Zunächst wird der Volkswirtschaftler Stefan Traub interviewt, und in der Anmoderation erwähnt, dass er Lilienthal wohnt.

O-Ton Prof. Stefan Traub, Volkswirtschaftler Helmut-Schmidt-Universität Hamburg:

Das erste vorläufige Gutachten, was der Gutachter abgegeben hat, hat mich doch einigermaßen schockiert, muss ich sagen, weil es sich hierbei um einen Zahlenwust handelt und Grafiken. Das sind im Wesentlichen eigentlich die Daten, die ihm selbst von der Gemeinde zur Verfügung gestellt worden sind. Also, um die 90 Prozent - würde ich mal schätzen - sind einfach Daten, die jeder sowieso wusste und die hat er dann noch mal durch große Tabellenkalkulationen gejagt und schöne Grafiken dazu gepackt. Die sind aber an sich völlig nutzlos und uninformativ.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Der Interviewausschnitt verblüfft: Ein Professor der Volkswirtschaft mit dem Schwerpunkt Statistik/Ökonometrie soll Probleme mit einem zahlen- und grafiklastigen Bericht haben? Das ist unwahrscheinlich. Er bemängelt, dass die Studie zu 90% Daten der Kommune verwendet und mit diesen in Excel gearbeitet wurde. Es ist davon auszugehen, dass hier nur ein sehr kleiner Teil eines eigentlich längeren Interviews durch Frontal 21 verwendet wurde.

Meiner Ansicht nach verwundert es nicht, wenn ein Gutachten zur Schulentwicklungsplanung sich vor allem auf kommunale Daten, z.B. des Melde- oder Schulregisters stützt. Ob diese Daten "jeder sowieso wusste" kann ich für den speziellen Fall nicht beurteilen. Aber offen gefragt: Kennt der Leser dieses Artikels z.B. die exakte Bevölkerungszahl und Altersstruktur seines eigenen Stadt- oder Ortsteils? 

Auch frage ich mich welche Software denn eigentlich deutlich besser gewesen wäre als eine Software zur Tabellenkalkulation? Es ist leider ein Fakt, dass viele Kommunen schon mit Excel-Tabellen überfordert sind, die speziellere Funktionen der Software benutzen. Einem Gutachter die Nutzung von Excel vorzuwerfen ist in etwa so, als ob man einem Maurer die Nutzung seiner Kelle vorwirft. 

Nüchtern betrachtet sehe ich in diesem Interviewausschnitt nicht, dass sachliche oder methodische Fehler im Gutachten der Firma Biregio angesprochen werden. Jedoch wird durch die Auswahl der entsprechenden Stelle durch Frontal 21 suggeriert, dass Gutachter sich keine Arbeit gemacht hätte.

Aus meiner Sicht wäre es eine für den Zuschauer wichtige Information gewesen, dass Herr Traub zwei Kinder hat und ebenfalls in oben genannter Bürgerinitiative aktiv ist. Für den Beitrag wird ihm, durch Bildauswahl, Anmoderation und Bauchbinde durch Frontal 21 die Rolle eines neutralen Experten zugewiesen. Unabhängig von seiner fachlichen Qualifikation, um die es hier nicht geht und die ich nicht bewerten möchte, ist er jedoch eben auch ein betroffener Vater. Er hat natürlich in dieser Funktion jedes Recht, schockiert über die drohende Schließung der Grundschule und das Gutachten zu sein.

Quelle: http://www.unserlilienthal-unseregrundschulen.de/

Update vom 20.06.2015: Laut den unten stehenden Quellen arbeitet in einer der Schulen, deren Schließung zur Diskussion steht, Frau Sandra Traub als pädagogische Hilfskraft. Im Telefonbuch gibt es in Lilienthal unter dem Namen Traub nur einen Eintrag: "Traub Sandra u. Stefan Dr.". Unabhängig vom Inhalt von Herrn Traubs Kritik: Frontal 21 hätte aus meiner Sicht diese Verbindung nicht verschweigen dürfen.

Quelle: http://www.gs-frankenburg.de/index.php?id=7

Quelle: http://www.iawa-online.org/archiv/rundeumrunde.pdf

 


02:42 - die Datenanalyse

Nun also zum eigentlichen Inhalt der Gutachten von Biregio immerhin wurden diese ja von den Autoren laut Aussage von Frontal 21 „gründlich geprüft“. Der Hinweis, dass das finale Gutachten im Fall der Gemeinde Lilienthal noch gar nicht vorliegt sondern lediglich Powerpointfolien aus den jeweiligen Gremiensitzungen fehlt hier als Einordnung. 

Für diese Prüfung wurde von Frontal 21 die von der mir sehr geschätzte Datenjournalismusagentur OpenDataCity beauftragt. Diese hat 57 zufällig ausgewählte und Gutachten der Firma Biregio analysiert und darin identische Textblöcke gefunden. Laut Aussage des Beitrages wären bis zu 60% des Textes in den Gutachten identisch.

60% Übereinstimmung im Text klingen in jedem Fall beeindruckend!

Dennoch denke ich, dass hier der Sachverhalt nicht korrekt dargestellt wurde. Der Gutachter hat für die Erstellung seines Gutachtens einen rel. umfangreichen Datensatz ausgewertet bzw. mit diesem gerechnet. Diese Rechenwege sind, wie schon beschrieben, bei den meisten Schulentwicklungsplänen nahezu identisch:

Man nimmt die Eingangsdaten zu Geburten, Sterbefällen, Zu- und Wegzügen und schätzt daraus die zukünftige Bevölkerungsentwicklung ab. Dann schaut man, wie viele Kinder wohl im schulpflichtigen Alter dabei heraus kommen und errechnet für die bestehenden Schulen mögliche Auslastungsvarianten für die kommenden Jahre. Ein wichtiger Punkt solcher Gutachten sind also Rechenoperationen und die dahinter liegenden Annahmen und Eingangsdaten. In einem Gutachten muss daher vor der Darstellung der Ergebnisse sehr ausführlich beschrieben werden, wie genau gerechnet wurde. Dieser „Methodikteil“ darf und wird sich zwischen den einzelnen Gutachten nicht unterscheiden. Ansonsten würde in Nordwestmecklenburg ggf. anders gerechnet werden als in Rheinland-Pfalz. Dies wäre nicht im Sinn der Auftraggeber. 

Größere Übereinstimmungen zwischen den Gutachten sind aus meiner Sicht daher völlig in Ordnung (über die Prozentzahl kann man natürlich gern diskutieren). Entscheidend sind meiner Meinung nach eben nicht unbedingt die methodischen Erläuterungstexte sondern die Rechenergebnisse, welche eher in Abbildungen als im Text zu suchen sind, sowie der Teil mit der finalen Ergebnisinterpretation. Ich versuche einmal, dies anhand von Arztbriefen zu beschreiben. In diesen wird mit einer sehr standardisierten Sprache der Zustand eines Patienten, die durchgeführten Behandlungen und Befunde sowie weitere Hinweise vom Klinikarzt an den Hausarzt übergeben. Die textlichen Übereinstimmungen zwischen den den Briefen dürften ebenfalls sehr hoch sein. Dennoch wird niemand bestreiten, dass der Hausarzt nach dem Lesen des Briefes individuell auf die Nachbehandlung des Patienten eingehen kann. Auf Nachfrage hat mit OpenDataCity bestätigt, dass die Ergebnisteile durchaus individuell geschrieben waren.

Noch einmal zur Klarstellung: Ich kenne die Gutachten des Büros Biregio nicht. Es kann durchaus sein, dass sie grobe Fehler aufweisen und mit einem zu geringen Aufwand erstellt wurden. Dann jedoch ist es die journalistische Pflicht von Herrn Esser und Frau Schmidt-Langels, diese Mängel und Fehler auch klar und detailliert zu benennen! Bis zu diesem Punkt des Beitrages ist dies meiner Meinung nach nur unzureichend passiert.


03:22 - der zweite Experte

Der erste Wissenschaftler ist Mitglied der Bürgerinitiative, die gegen das in dem Beitrag dargestellte Gutachten kämpft und die Datenanalyse kann aus meiner Sicht auch nicht hinreichend darstellen, welche Fehler das Gutachten haben soll.

Als nächstes wird der Wirtschaftswissenschaftler Prof. em. Rudolf Hickel befragt, der das Gutachten „sehr schlecht“ findet. Die Grundschulen hätten auch eine allgemeine Wirkung für die Lebensqualität eines Ortsteils und dies sei nicht in die Standortbewertung eingegangen:

Da werden Zahlen auf den Tisch geknallt, ohne irgendwie zu sagen, was eigentlich der qualitative Wert ist, einer solchen Entscheidung.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Mit seiner Aussage mag Herr Hickel Recht haben, aber er spricht von einer „Entscheidung“ und diese liegt wie immer nicht beim Gutachter sondern bei der Politik: Gutachten dienen in der Regel dazu, die vorhandenen Daten so aufzubereiten, dass die Politik die Daten versteht und auf ihrer Basis eine Entscheidung herbei führen kann. Sie können Empfehlungen aussprechen aber niemals am Gemeinderat vorbei entscheiden.

Die Frontal 21 Redaktion versäumt es an dieser Stelle den Zuschauern mitzuteilen, dass auch Herr Hickel in Lilienthal, bzw. direkt nebenan, in Borgfeld, wohnt. Hieraus allein ist natürlich keine Nähe zur Bürgerinitiative und den Gegnern des Gutachtens abzuleiten. Dennoch wäre es meines Erachtens sinnvoll gewesen, einen auch räumlich zweifelsfrei nicht betroffenen Wissenschaftler mit der Untersuchung des kritisierten Gutachtens zu betrauen.


03:50 - der Gutachter

Nach so viel Kritik an seiner Firma und Person kommt Wolf Krämer-Mandeau, Leiter der Projektgruppe Biregio nun auch einmal, wenn auch kurz, zu Wort. Er wird damit konfrontiert, seine Gutachten zum „Schleuderpreis“ anzubieten. Wenig versteckt wird hier der Vorwurf erhoben, seine gutachterliche Sorgfaltspflicht zu verletzen und zu günstig zu sein, um gute Arbeit machen zu können.

Halten wir fest: Frontal 21 wirft nun einem Gutachter vor, einer hoch verschuldeten, sich in der Haushaltssicherung befindenden Kommune ein zu günstiges Angebot gemacht zu haben und weist darauf hin, dass es Konkurrenten gibt, die besagte Gutachten für 120.000 € anbieten. Von Frontal 21 wird jedoch nicht dargestellt , dass der Kostenrahmen für diese Untersuchung bei 50.000 € lag und das Angebot von Biregio fairerweise mit diesem Preisrahmen verglichen werden sollte. Dennoch war das Angebot zweifelsohne sehr günstig. Allerdings wird beispielsweise nicht verglichen, in welchen Leistungen sich die angebotenen Gutachten voneinander unterschieden hätten, ob also die teureren Angebote auch eine deutlich höhere Qualität gehabt hätten.

Herr Krämer-Mandeau bekommt kurz die Chance für eine Rechtfertigung und wird dann einem O-Ton von Prof. Rudolf Hickel gegenüber gestellt: Dieser fordert für den betreffenden Fall eine deutlich umfangreichere Analyse mit weiter gehenden Forschungsfragen. Implizit stellt er die Firma Biregio als unehrlich und unaufrichtig dar:

Würden sie eine ehrliche, aufrechte, qualitative Analyse machen beispielsweise über die Frage, was das für die Lebensqualität der Menschen im Ortsteil bedeutet, dann können sie mit 20.000 Euro kein Gutachten machen.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Einen Hinweis, was an dem Gutachten nun aber inhaltlich falsch sein soll – abgesehen von für Herrn Hickel zu eingeschränkten Forschungsfragen - bekommen wir leider immer noch nicht. Auch hier ist davon auszugehen, dass Frontal 21 nur einen Bruchteil eines deutlich längeren Interviews verwendet hat. Es ist sicherlich eine gute Idee eine komplexere Untersuchung anzustellen – allerdings muss man hier fairerweise auch auf die Haushaltssicherung bzw. den oben genannten Preisrahmen verweisen.


05:45 - der Bürgermeister

Weiter geht es mit dem Bürgermeister der Gemeinde Lilienthal: Dieser bestätigt nun, dass Schulschließungen in der Stadt zukünftig durchaus denkbar sind. Sofern das betreffende Gutachten keine Fehler gemacht hat (bis zu diesem Punkt lässt der Beitrag hierzu eine detaillierte Analyse vermissen) und die Schülerzahlen in den kommenden Jahren wirklich sinken werden erscheint mir diese Haltung in Anbetracht der schwierigen Haushaltslage der Kommune nicht gänzlich abwegig.


06:00 - der Bildungsforscher

Nun wird kurz der Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm zu Wort gebracht. 

O-Ton Prof. em. Klaus Klemm, Bildungsforscher: Oft wissen die Auftraggeber von sich aus schon, was sie machen müssen. Aber da sie ahnen, dass das politisch kontrovers wird, ist es dann hilfreich, jemanden von außen zu haben, sodass man in den politischen Kontroversen sagen kann, unser Gutachter hat uns empfohlen.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Eingeleitet wird dieser O-Ton mit der Ansage, dass externe Gutachten oft Gefälligkeitsgutachten seien. Durch den direkten Schnitt in das merkwürdig aus dem Zusammenhang gerissen wirkende Zitat von Herrn Klemm wird seitens der Frontal 21 Redaktion suggeriert, dass Herr Klemm diese Aussage stützt.

Genau das sagt Herr Klemm aber gar nicht! Er weist lediglich darauf hin, dass es hilfreich sein kann, wenn offensichtliche Probleme, die niemand in einer Gemeinde hören will, von einer neutralen externen Person angesprochen werden. Um mal die Bildzeitung, auf deren Niveau dieser Teil des Beitrages leider dahin dümpelt, zu zitieren: „Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der Sie ausspricht“.

Update vom 12.6.2015: Herr Klemm hat wegen seiner offenbar vollkommen aus dem Zusammenhang gerissenen und in ihrer Anmoderation verdrehten Zitate eine Beschwerde an das ZDF geschrieben und das klärende Gespräch mit Biregio gesucht. Er verwehrt sich gegen die Darstellung, dass aus seiner Sicht viele Gutachten Gefälligkeitsgutachten seien.

Quelle: http://www.schwaebische.de/region_artikel,-Stadt-wehrt-sich-gegen-Vorwuerfe-aus-TV-Beitrag-_arid,10249142_toid,310.html


06:26 das zweite Fallbeispiel

Bisher bezog sich die Kritik an der Firma Biregio nur auf das Beispiel Lilienthal. Dies wirkt doch sehr einseitig - speziell angesichts der Vielzahl von Gutachten, die das Büro bisher in vielen Teilen der Republik durchgeführt hat.

Gehen wir also nach Hagen in NRW, wo Biregio vor vier Jahren ein Gutachten erstellt hat. Hier wird zunächst eine Mutter zitiert, dass es keine Schule und keinen Einkaufsladen mehr in ihrem Ortsteil gibt. Auch hier liegt die Entscheidung für oder gegen eine Schulschließung letztendlich bei der Politik. Wenn der Einkaufsladen ebenfalls dicht macht, kann dies ein Indiz dafür sein, dass es dem Stadtteil schlichtweg an Menschen fehlt und die Einwohnerzahl rückläufig ist.

O-Ton Michael Gronwald, Ratsmitglied, Stadt Hagen: Wir dürfen auch nicht vergessen, die Zeiten, in denen das beschlossen worden ist, haben sich massiv geändert. Wir haben jetzt sehr viele Flüchtlingskinder und es werden noch viel mehr kommen.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Wenn es einen starken Zuzug von außen und damit einen erhöhten Bedarf gibt, dann kann es durchaus Sinn machen, die Schule nicht zu schließen. Wie aber das vier Jahre alte Gutachten die aktuelle Flüchtlingswelle präzise auf den Stadtteil hin hätte vorhersagen sollen bleibt der Beitrag dem Zuschauer an dieser Stelle schuldig.

Update vom 12.06.2015: In Hagen wurden nicht wie von Frontal 21 im Beitrag behauptet bereits fünf sondern zwei Schulen auf Basis des Gutachtens von Biregio geschlossen - eine davon, wegen eines eingestürzten Daches.

Quelle: http://www.schwaebische.de/region_artikel,-Stadt-wehrt-sich-gegen-Vorwuerfe-aus-TV-Beitrag-_arid,10249142_toid,310.html


07:31 - die eigene Recherche

Und wieder folgt ein kleiner Dateneinschub:

Nach Recherchen von Frontal 21 ist die Zahl der Grundschulen in Deutschland auf einem neuen Tiefstand. Nach der Wende existierten knapp 18.000 Grundschulen. Mittlerweile sind es 3000 weniger – allein im vergangenen Jahr schlossen 575 Grundschulen.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Die Rechercheleistung bezieht sich darauf, dass anscheinend die Werte für 2015 bei den Kultusministerien abgefragt wurden. Die Werte bis einschließlich 2014 sind auf dem Datenportal des Bundes direkt als Exceldatei verfügbar.

Quelle: http://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/K231.html#chapters


08:15 - der Gutachter (zweiter Teil)

Weiter im Beitrag: Nun wieder ein kurzer O-Ton von Herrn Krämer-Mandeau:

O-Ton Wolf Krämer-Mandeau, Leiter Projektgruppe Biregio: Ich sage nicht, dass für die Lebensqualität keine Rolle spielt. Es gibt nur keine signifikanten Zusammenhänge, dass Leute nicht hinziehen, wenn es hier sehr schön ist, weil die Schule nicht da ist.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Auch mir sind keine Studien bekannt, die einen empirischen Zusammenhang zwischen einer Schulschließung als Auslöser oder Beschleuniger für eine negative Einwohnerentwicklung gezeigt haben. Ich halte es aber nicht für unwahrscheinlich, dass es diesen Zusammenhang gibt. Falls es Studien gibt: Bitte melden, interessiert mich sehr!


08:31 - das dritte Fallbeispiel

Für das letzte Fallbeispiel geht es in den Norden der Republik.

Damshagen in Mecklenburg-Vorpommern. Vor einem Jahr hat es die letzte Grundschule erwischt. 40 Schüler schrieb die Landesregierung vor, angemeldet hatten sich nur 37. Jetzt müssen die Kinder lange Fahrten in Kauf nehmen. Eine enorme Belastung für ihren Sohn, erzählt Manuela Kühne.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Hier ist es an der Politik, die Mindestgrößen einer Klasse so zu definieren und die Mittel bereit zu stellen, dass Schulen auf dem Land eine Chance haben.

Was Frontal 21 nicht erwähnt, aber für den Beitrag als Hintergrundinformation aus meiner Sicht nicht unwichtig ist: Laut den Lübecker Nachrichten wurde die im Beitrag gezeigte Grundschule Anfang 2014 zeitweise gesperrt um die Kinder vor starkem Schimmelbefall des Gebäudes zu schützen. Auch wird nicht dargestellt, dass bei der Schließung dieser Schule kein Gutachten der Firma Biregio zum tragen kam (was man aufgrund des bisherigen Berichtsaufbaus vermuten würde).

Quelle: http://www.ln-online.de/Lokales/Nordwestmecklenburg/Schimmel-Schule-in-Damshagen-gesperrt

Die Kinder müssen nun also bis nach Boltenhagen fahren und der Beitrag suggeriert, dass es sich hierbei um eine "lange Fahrt" handelt. Der Bus fährt unter der Woche um 7:13 ab "Damshagen Schule" ab und ist um 7:25 in "Boltenhagen Schule" - das Kind muss also 12 Minuten in einem Bus sitzen. Die Straßenentfernung zwischen den Schulen beträgt 7 km. Leider führt es häufig zu deutlichen Belastungen für die Schulkinder wenn die Schulentwicklungsplanung unabhängig von der Schülerverkehrsplanung gemacht wird.

Und wieder stellt sich die Frage, was nun der Gutachter dafür kann, dass die Busfahrpläne nicht auf den Schulbeginn optimiert werden. Denn einen Schulweg von 12 Minuten Dauer haben sicherlich sehr viel mehr Grundschüler in Deutschland und die halbe Stunde Wartezeit an der Schule müsste nicht sein, wenn die Schulanfangszeiten oder die Fahrpläne angepasst würden (was andere Kreise inzwischen tun).

Quelle: http://www.nahbus.de/wp-content/uploads/320-20140825.pdf


09:50 - das Finale

Der Beitrag endet mit folgendem Statement.

Das Gasthaus in Damshagen ist längst geschlossen, es gibt keine freiwillige Feuerwehr mehr. Grundstücke und Häuser stehen zum Verkauf. - Erst stirbt die Schule und dann das ganze Dorf.
— Frontal 21: Sendungstranskript 9.6.15

Wie im Bericht erwähnt wurde die Schule letztes Jahr geschlossen. Dies ist also sicherlich nicht der Grund, weshalb es längst kein Gasthaus und keine Feuerwehr gibt.


Was bleibt?

Letztlich mögen die Leser dieses Beitrages selbst entscheiden, was sie von dem dargestellten Fall halten. Bei mir bleibt ein schaler Beigeschmack bzgl. der journalistischen Qualitäten von Christian Esser und Daniela Schmidt-Langels und durchaus Respekt für die Medienarbeit der Bürgerinitiative "Unser Lilienthal - unsere Grundschulen" die es geschafft hat, einen knapp zehnminütigen Beitrag zu ihrem Thema zu einer akzeptablen Sendezeit im ZDF zu platzieren. Etwa eine Woche vor der wohl entscheidenden Sitzung im Schulausschuss und einen Monat vor der Gemeinderatssitzung, welche über die Schließung der Schulen entscheiden wird. Die Rufschädigung des Gutachters wurde dabei von Frontal 21 offensichtlich in Kauf genommen.